19/05/2016
Bei geschätzt rund 10.000 Qigong-Formen, die heute existieren sollen, lohnt sich ein Blick in die Vielfalt der Stilrichtungen. Sonst wäre es, als würde man sagen: „Ballsport kenne ich – habe ich auch mal ausprobiert.“ Gemeinsam ist dort oft nur der Ball.
Beim Qigong dagegen verbindet alle Formen die Arbeit mit dem Qi (Chi). Warum gibt es also so viele unterschiedliche Stile? Worin unterscheiden sie sich? Welche Ziele verfolgen sie? Und welches Weltbild steckt jeweils dahinter?
☯️ Die fünf großen Richtungen des Qigong
Grundsätzlich gliedert man Qigong (Chi Kung) in fünf Hauptkategorien: die daoistische, die konfuzianische, die buddhistische, die medizinische sowie die kampfkunstorientierte. Innerhalb dieser Bereiche existieren wiederum zahlreiche Linien, Schulen und Untergruppen – und selbst darin finden sich weitere Varianten, Abweichungen und Gemeinsamkeiten.
🌿 Daoistische Richtung
Der daoistische Ansatz legt den Schwerpunkt auf die Stärkung von Körper und Geist. Ursprünglich zielte diese Richtung auf das Erreichen höherer spiritueller Ebenen ab – doch am Anfang geht es zunächst um etwas anderes: um das Verinnerlichen der Techniken und das Harmonisieren von Körper und Geist. Erst wenn die Bewegungen selbstverständlich geworden sind, kann man sich dem natürlichen Fluss hingeben und die Gesetzmäßigkeiten der Natur nutzen.
In dieser Phase soll der Kopf frei werden. Der Geist folgt den Bewegungen, die wiederum den Kräften der Natur – Gravitation, Zentrifugalkräften usw. – entsprechen. Eine große Rolle spielen die drei Dantians (vergleichbar mit Nabel-, Herz- und Stirnchakra) sowie der kleine und große himmlische Kreislauf. Da in dieser Ausrichtung die Bewegung im Vordergrund steht, eignet sich die daoistische Richtung besonders für Einsteiger und Menschen mit Bewegungsdrang. Auch Dayan (Wildgans)-Qigong gehört zu dieser Linie.
📜 Konfuzianische Richtung
Hier liegt der Schwerpunkt deutlich auf innerer Haltung und mentaler Disziplin. Nach konfuzianischem Verständnis gelten der männliche Samen, die Lebensenergie und der Geist als die drei größten Schätze des Menschen – und müssen bewahrt und kontrolliert werden. Ziel ist ein aufrechter Charakter, ein ruhiges Gemüt und die Fähigkeit, Emotionen und äußere Einflüsse nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Mit den Übungen soll ein Zustand von Ruhe, Stabilität und Gelassenheit erreicht werden, in dem man innerlich nicht so leicht aus dem Gleichgewicht gerät.
🕯️ Buddhistische Richtung
In der buddhistischen Ausrichtung steht der Geist klar im Mittelpunkt. Meditation ist hier der Königsweg. Der Körper dient als Träger, der das geistige Wachstum unterstützt, aber im Rang zweitrangig ist. Viele buddhistische Qigong-Formen verbinden äußere und innere Methoden. Ein zentrales Prinzip ist eine Technik, die man vereinfacht als „Aufpumpen von Qi“ beschreiben könnte: Wird ein Fluss kurz blockiert (wie ein Gartenschlauch, den man mit dem Fuß abdrückt), entsteht anschließend ein stärkerer Schub. Nach diesem Muster werden Atmung und Energiefluss beeinflusst.
⚕️ Medizinische Richtung
Das Hauptanliegen ist die Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten. Besonders betont wird in der medizinischen Tradition jedoch, dass Prävention die besten Ergebnisse liefert. Die drei grundlegenden Methoden sind:
a) Gezielte Heilenergie
Der erfahrene Anwender richtet bewusst Energie auf bestimmte Punkte oder Kanäle im Körper des Patienten, um Prozesse anzuregen, stagnierendes Qi auszuleiten und das System zu stärken.
b) Selbstregulierende Techniken
Hier arbeitet der Patient selbst mit Übungen, die individuell an Beschwerden, Konstitution, Alter oder Energielage angepasst werden. Das erklärt mit, warum so viele Stilrichtungen entstanden sind.
c) Behandlung durch Handauflegen
Gemeint sind Tuina, Akupressur und verwandte Methoden der TCM: Durch Druck, Berührung und Lockerung bestimmter Zonen wird das Qi wieder in Fluss gebracht.
Wildgans Qigong nutzt sowohl Akupressur als auch Selbstbestrahlung und kann deshalb der daoistischen und zugleich der medizinischen Richtung zugeordnet werden.
🥋 Kampfkunstbetonte Richtung
Hier ist die innere Haltung entscheidend: Jede Bewegung verfolgt eine klare Absicht. Deshalb wird von individuellen Änderungen der traditionellen Bewegungen abgeraten. Es gibt äußere und innere Schulen.
Äußere Schulen:
Umfassen Stellungen, Falltechniken, Faust-, Knie-, Ellenbogen- und Schultertechniken, Tritte, Hebel, Würfe sowie Waffenformen. Dazu kommen Dehnungen entlang der Meridiane.
Innere Schulen:
Konzentrieren sich u. a. auf Ernährung, Chan-Meditation, innere und äußere Qigong-Aspekte sowie Vitalpunktstimulation – sowohl im Kampf als auch zur Ersten Hilfe. Man unterscheidet hartes (muskelorientiertes) und weiches Qigong (geistige Entwicklung, Visualisierung).
In früheren Zeiten waren die weicheren, ausgleichenden Yin-Elemente fester Bestandteil der Kampfkünste. Erst später wurden sie vernachlässigt – mit der Folge, dass moderne Kampfsportler häufiger Verletzungen erleiden.
Weitere Informationen über die kampfkunstbezogenen Qigong-Stile – etwa Kungfu, Taijiquan, Shaolin oder die fünf Tiere – bietet die Deutsche Qigong-Gesellschaft.
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